"Die Wende" dezentralisieren. Transformationsgeschichte(n) aus regionaler Perspektive

„Die Wende“ dezentralisieren. Transformationsgeschichte(n) aus regionaler Perspektive

Veranstalter
Claudia Kemper, LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte (LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte)
Ausrichter
LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte
PLZ
48143
Ort
Münster
Land
Deutschland
Findet statt
In Präsenz
Vom - Bis
21.03.2024 - 22.03.2024
Deadline
30.11.2023
Von
Claudia Kemper, Neuere und Neueste Geschichte, LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte

Die gesamtdeutsche Geschichte insbesondere der Wiedervereinigung und Transformation seit den 1990er Jahren wird ungleich und mit einschränkender Sichtweise erzählt und erforscht. Um die Perspektiven zu erweitern muss genauer als bislang auch auf Westdeutschland geblickt werden. Der Workshop möchte diskutieren, wie sich die Geschichte von „Wende“ und Transformation integrativ, regionalhistorisch differenziert und zugleich gesamtdeutsch erzählen lässt.

„Die Wende“ dezentralisieren. Transformationsgeschichte(n) aus regionaler Perspektive

In der Forschung und öffentlichen Meinung zur Transformationsgeschichte gelten die DDR bzw. Ostdeutschland oftmals als „das Andere“, während die „alte“ Bundesrepublik bzw. Westdeutschland den „Normalfall“ darstellen. Diese ungleiche und einschränkende Sichtweise auf die Geschichte der Wiedervereinigung und Transformation seit den 1990er Jahren erfordert Erweiterungen der Perspektiven. Denn nicht nur Ostdeutschland erlebte nach „der Wende“ eine dramatische Transformationsphase, die bis heute anhält. In westdeutschen Bundesländer schlugen sich Ko-Transformationen (P. Ther) zwar zeitverzögert und teils subtil nieder, aber sie bestimmten ebenfalls die gesellschaftspolitische Entwicklung in vereinten und an Ost-West-Konflikten nicht armen Deutschland. Mit dem Ende der 30-Jahres-Frist für zahlreiche Archivbestände und mit den offenkundig immer dringlicheren politischen Herausforderungen der Gegenwart, von sozialer Ungleichheit bis Demokratiegestaltung, weitet sich der Blick auf „die Wende“ zunehmend auch auf Westdeutschland und seine Rolle während der Transformationszeit. Der Workshop möchte der Frage nachgehen, wie sich die Geschichte von „Wende“ und Transformation regionalhistorisch-gesamtdeutsch erzählen lassen kann? „Die Wende“ und die nachfolgenden Jahre bis in die unmittelbare Gegenwart hinein sollen dezentral und zugleich integrativ in den Blick genommen werden. Gewünscht sind Beiträge, die aus regionaler und transregionaler Perspektive den Phänomenen von Transformation und Ko-Transformation sowohl in Ost wie West und aufeinander bezogen nachgehen und zur Diskussion auffordern.

Das Spektrum der interessierenden Fragen ist weit gefasst. Hierzu einige Anregungen

Politik
- Lassen sich aus regionalhistorischer Perspektive Akteure identifizieren, die zu den Unterstützer:innen oder Kritiker:innen des Einheitsgeschehens gehörten, die progressiv für die Einheit oder eher zurückhaltend auftraten und Alternativen formulierten? Wie verliefen die Auseinandersetzungen mit dem Mauerfall, mit der Frage eines Beitritts der DDR und mit den zu erwartenden Folgen in westdeutschen Landesregierungen, Oppositionsparteien, kommunalen Einrichtungen oder anderen regionalen Organisationen? Welche Kontakte nach Ostdeutschland wurden gesucht und aufgenommen?

Ökonomie
- Welche wirtschaftspolitischen Entscheidungsprozesse wurden von welchen Stellen in Westdeutschland angestoßen und gesteuert? Wie beeinflussten diese Mittel die ökonomische Ausgangslage von Regionen, als es (beispielsweise nach 1993 oder auch 2001/2002) zu Rezessionen kam?
- In der Transformationszeit rückten „strukturschwache“ Gebiete und die nicht gleichwertigen Lebensverhältnisse in Deutschland in den Fokus. Wie lassen sich diese Kategorien jenseits der Ost-West-Einordnung fassen? Welche regionalen Spezifika lassen sich erkennen und für eine präzisere Beschreibung von Ungleichheit verwenden? (z.B. Nord-Süd, Industrie-Agrarregion, Metropole-Land, etc)
- Wie wurden ökonomische und soziale Ungleichheiten, die in West- wie Ostdeutschland zu erkennen waren, aus westdeutscher Perspektive wahrgenommen und diskutiert? Wie positionierten sich regionale „player“ wie Unternehmen, Gewerkschaften, Forschungsinstitute in dieser Auseinandersetzung?

Soziale Bewegungen und Zivilgesellschaft
- Strukturen und Bedingungen für rechte Bewegungen lagen sowohl in West wie Ost in der Zeit vor der „Wende“. Wie lässt sich das Erstarken der Rechten regionalhistorisch differenziert erklären? Welche Strukturen gab es in westlichen Bundesländern und Orten vor der „Wende“ und wie setzte anschließend die transregionale Vernetzung ein? Mit welchen medialen und politischen Argumentationsmustern konzentrierte sich in der Folge die Problemwahrnehmung vorrangig auf „den Osten“?
- Wie gingen nicht-staatliche Organisationen der westlichen Bundesländer (z.B. Vereine in den Bereichen Soziales, Freizeit, Heimatpflege, Sport, Umwelt- und Naturschutzvereine) mit der neuen Situation um? Wie und begleitet von welchen Konflikten veränderten sich ihre Strukturen? Mit welchen Strategien erschlossen Organisationen neue Regionen in ostdeutschen Bundesländern und wie wurde dieser Form des „Wissens-Transfers“ in Ostdeutschland wahr- und aufgenommen? Unter welchen Bedingungen fusionierten Organisationen, vergrößerten sie sich oder lösten sich auf? Gab und gibt es auch im zivilgesellschaftlichen Bereich – ähnlich wie in Unternehmen und Verwaltung – eine Kontinuität westlicher Elitenbildung?
- Veränderten sich die Geschlechterverhältnisse spezifisch in Ost- und Westdeutschland oder lässt sich eine gesamtdeutsche Entwicklung erkennen? Wie veränderten sich mit den Geschlechterverhältnissen auch die Vorstellungen von z.B. Privatheit und Öffentlichkeit?

Wissen und Forschung
- Wissen von West nach Ost und wieder zurück? Zahlreiche westdeutsche Expertinnen und Experten gingen im Zuge eines umfassenden Elitentransfers nach Ostdeutschland. In diesem Zusammenhang interessiert der Umgang mit dem „vorgefundenen“ Wissen und die Vermittlung eigenen Wissens (in Verwaltung, Politik, Wissenschaft, Kunstbetrieb usw.)? Welche Wissensformen und Praktiken wurden über die westlichen Eliten (gezielt oder nicht-intendiert) wiederum in westliche Bundesländer rück-transferiert und bildeten einen Ausgangspunkt für Ko-Transformationen?
- Wie ging die sozial-, wirtschafts-, rechts- und geisteswissenschaftliche Forschung mit der „Wende“ um? Wer forschte überhaupt zur „Wende“? Welche Thesen, Modelle und Netzwerke hatten im Westen Konjunktur und dienten als Interpretament? Wie veränderten sich diese? Thesen und Modelle nach „der Wende“ und wie prägten sie die Interpretationen und Narrative über Ost- und Gesamtdeutschland?

Bildung und Erziehung
- Wie veränderten sich Lehrpläne hinsichtlich regional- und landesgeschichtlicher Themen? Wie gestalteten sich nach 1990 Identitäts-, Raum- oder Heimatbezüge, die in den einzelnen Lehrplänen vorgesehen waren?
- Welche Rolle spielte die Wiedervereinigung in den Lehrplänen oder in den Curricula der Hochschulen in den verschiedenen Bundesländern? Wie sah die soziale Praxis in der Lehre aus? Wie unterschieden sich an Schulen oder an Universitäten regionalhistorische Nahraum-Projekte?

Erinnerungen und Narrative
- Wende- und Transformations-Biographien aus Ost und West unterscheiden sich enorm, denn letzteren fehlt der Zusammenbruchsmoment mit seinen sozialen und emotionalen Folgen wie Enttäuschung, Wut etc. Wie können biographische Erzählungen von Menschen aus Ost und West trotz ihrer großen Diskrepanz zusammengebracht werden? Lassen sich emotionshistorische Vergleiche anstellen? Hilft es, anstatt Ost- und West-Biographien zu unterscheiden, Biographien anhand ihres regionalen Nahraums miteinander in Beziehung zu bringen (z.B. Lebenserfahrungen an der innerdeutschen Grenze; migrantische Lebenserfahrungen; Lebenserfahrungen in Industriegebieten bzw. Erfahrungen mit Deindustrialisierung, etc.?)
- Welche Bedeutung haben die Feiern zum Tag der deutschen Einheit in den verschiedenen Bundesländern? Wie veränderte sich die Ausgestaltung der erinnerungskulturellen Feierlichkeiten und warum? Welche Rolle spielten in diesem Zusammenhang die Ost-West-Städtepartnerschaften? Wie entwickelte sich die Einheits-Denkmalkultur in den verschiedenen Regionen Deutschlands?

Der Workshop soll Befunde und Diskussionsbeiträge aus unterschiedlichen Forschungs- und Arbeitszusammenhängen zusammenbringen. Beiträge aus sozial- und kulturgeschichtlicher Perspektive sind ebenso erwünscht wie (historisch orientierte) Beiträge aus benachbarten Wissenschaften. Willkommen sind Beiträge sowohl von Wissenschaftler:innen als auch Master-Studierenden. Neben dem Austausch zu einzelnen Themen wird es auch Raum geben, um die übergreifende Problemstellung zu diskutieren, die sich aus dem Workshoptitel „Die Wende dezentralisieren“ ergeben.

Sollten Sie Interesse haben, Ihre Überlegungen zu diesen Fragen mit uns zu diskutieren, richten Sie Ihren Vorschlag bis spätestens zum 30. November 2023 an claudia.kemper@lwl.org. Bitte reichen Sie eine knappe Zusammenfassung bzw. Problematisierung Ihres Themas (maximal eine Seite) und einen kurzen Lebenslauf ein.
Wir bemühen uns, die Finanzierung der Reise- und Übernachtungskosten für die Vortragenden sicherzustellen.

https://www.lwl-regionalgeschichte.de/de/